Auszug aus „Balancierte Führung – Orchester und Teams für das gemeinsame Stück gewinnen“, Lorenz Huber
Ein Team kann Informationen bis zu einer bestimmten Grenze aufnehmen und verarbeiten. Wird diese Grenze überschritten, ist das Team übersteuert und wird durch das Übermaß an Impulsen in Orientierungsstress versetzt. Wird jedoch die Mindestbedarf an Führung unterschritten, wird das Team untersteuert und durch ausbleibende Impulse in Vakuum-Stress versetzt. Viele Führungskräfte neigen zum Über- oder Untersteuern ihrer Teams. Um dem daraus entstehenden Stress auszuweichen, ergreifen Mitarbeiter ergreifen dann Gegenstrategien.
Übersteuerung
Die Übersteuerung zeigt sich durch ständige Überinformation und unnötiges Antreiben. Auch engagierte und eigenverantwortliche Mitarbeiter werden so zu Getriebenen. Übersteuernde Dirigenten machen zu viele Bewegungen, aus denen ihre Musiker die wirklich relevanten Impulse erst herausfiltern müssen. Das ist vergleichbar mit einem Chef, der seinen Mitarbeitern täglich 100 Mails schickt. Für einen einzelnen Mitarbeiter ist es schon anstrengend genug, daraus das Wichtigste herauszufiltern. Er kann jedoch seine persönliche Strategie entwickeln und lernen, welche Mails er getrost beiseite lassen kann. Aber für ein großes Team wird es zur Herkulesaufgabe gemeinsam einzuschätzen, welche Mails als relevant oder irrelevant eingestuft werden.
Übersteuerung kann sich auch äußern in der übertriebenen Anwendung von Methoden des Performance Management, besonders bei Erfassung und Vergleich von Kennzahlen sowie Feedback. Ich habe z.B. in einem Unternehmen die Anwendungen eines Kompetenzkatalogs mit über 40 Kompetenzen im 360° Feedbacks erlebt. Die Führungskräfte haben ein derartig detailliertes Feedback bekommen, dass die meisten beim besten Willen gar nicht wussten, wie sie es hätten umsetzen können. Diese Überfrachtung mit Daten überfordert und gibt zu viele Impulse gleichzeitig. Die Adressaten wenden sich ab und richten sich nach anderen Instanzen wie Intuition oder Gewohnheit. Es ist eines von vielen Beispielen, warum Überinformation Zeitverschwendung ist.
Sehr ähnlich ist die Situation von 80 Orchestermusikern, die einen übersteuernden Dirigenten vor sich haben. Die kurze Zeitspanne, die für die gemeinsame Entscheidung zur Verfügung steht, verschärft die Lage zusätzlich. Während die Mitarbeiter mit den 100 Mails sich vielleicht noch zu einer Besprechung zurückziehen können, müssen die Musiker auf offener Bühne in Sekundenbruchteilen entscheiden, welche der vielen Impulse sie aufnehmen und welche nicht. In solchen Situationen sind Strategien gefragt, und diese sind vielfältig.
Gegenstrategien auf der operativen Ebene:
- Kollektive Entkoppelung: Gemeinsame Selbstorganisation und Entkoppelung des Teams von der Führung. Im Orchester ist das der Moment des Konzertmeisters, also des Stimmführers der ersten Geigen. Er entscheidet im Zustand der Übersteuerung über das richtige Tempo und kommuniziert es mittels großer Spielbewegungen an seine Kollegen. In anderen Teams übernehmen informelle Führungskräfte diese klärende Rolle, indem sie Entscheidungen zum Umgang mit der Übersteuerung treffen. Diese Form der Selbstorganisation muss weder Orchester noch Organisationen unbedingt gefährden – es sei denn, sie findet gleichzeitig in mehreren Teams statt und führt zu abweichenden Prozessen, die das Zusammenspiel der Teams gefährden.
- Individuelle Entkoppelung: Kritischer für Organisationen ist die zweite Strategie: die Entkoppelung des Einzelnen von der Führung und vom Team. Die einzelnen Akteure setzen ihre individuelle Arbeitsweise ohne langwierige Teamentscheidungen um. Dabei kann das Problem entstehen, dass die verschiedenen individuellen Arbeitsweisen nicht zusammenpassen. In einem Orchester wird dieses Auseinanderdriften der Spielweisen sofort hörbar und kann daher schnell korrigiert werden. In Organisationen mit orts- und zeitversetzter Arbeitsweise wird die Inkompatibilität der Arbeitsweisen aber erst in einem späteren Stadium wahrnehmbar, in dem die Individualisierung weit fortgeschrittenen ist. Die nötige Harmonisierung der Prozesse stößt dann auf viel größeren Widerstand. Daher kann die unbegrenzte, individuelle Selbstorganisation für diese Organisationen kritisch werden.
Die Gründe für übersteuerndes Führungsverhalten sind vielfältig. Wir finden viele von ihnen in Glaubenssätzen von Führungskräften:
- Führung muss sich durch sichtbare Anstrengung rechtfertigen
- Besser zu viel als zu wenig agieren
- Wenn Mitarbeiter nicht ständig Impulse bekommen, werden sie untätig oder desorientiert
- Wenn ich ständig steuere, bin ich meinen Mitarbeitern immer einen Schritt voraus
Diese Glaubenssätze beruhen auf Angst. Das bedeutet aber ganz und gar nicht, dass Übersteuerung nur ein Phänomen unter unerfahrenen Führungskräften wäre. Denn die Angst der Führung vor dem Bedeutungsverlust ist in vielen sich wandelnden Organisationen präsent. Die Übersteuerung kann eine Strategie der Angstbewältigung sein, weil sich Führungskräfte damit selbst ihrer Bedeutung für die Organisation vergewissern.
Darüber hinaus kann Übersteuerung durch umabgestimmte Leitungsteams entstehen, deren Mitglieder widersprüchlich kommunizieren, entscheiden oder handeln. Sprichwörtlich weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Das versetzt Teams in Orientierungs-Stress, blockiert die Zusammenarbeit und inittiert in weiterer Folge die kollektive oder individuelle Entkoppelung.
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